Buchvorstellung 3 - Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde

Ev.-luth. Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde
Hannover Badenstedt
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Buchvorstellung

„Erzähler der Nacht“ von Rafik Schami

In Rafik Schami fand ich schon als Kind einen meiner Lieblingsautoren. Seine Erzählweise ist von einer solchen Farbigkeit, dass ich beim Lesen seiner Bücher die Straßen von Damaskus der 1960er Jahre vor meinem inneren Auge lebendig werden sah und mir wünschte, sie und seine Bewohner einmal live erleben zu dürfen. Für mich begann die Liebe zu diesem Autor mit seinem 1989 veröffentlichen Roman „Erzähler der Nacht“. Salim, ein Kutscher und allseits beliebter Geschichtenerzähler, verliert aus geheimnisvollen Gründen seine Stimme und bleibt fortan stumm. Seine sieben Freunde, die bisher regelmäßig seinen Erzählungen gelauscht haben, müssen nun selbst zu Erzählern werden, denn nur sieben Geschichten können ihren Freund wieder zum Sprechen bringen. Die Runde der Sieben bildet die damalige syrische Gesellschaft in ihrer Diversität exemplarisch ab: ein Schlosser, ein Friseur und ein Lehrer sind dabei; fehlen darf weder der Kaffeehausbesitzer noch ein aus Amerika zurückgekehrter Auswanderer; es sind sogar ein entlassener Häftling und ein ehemaliger Minister des Landes vertreten.
So unterschiedlich wie ihre Erzähler sind auch die Geschichten, Märchen und Lebensbiografien, die nun in sieben aufeinanderfolgenden Nächten in Salims Haus geschildert werden – doch alle Geschichten haben etwas zur Bedeutung der Sprache und des Erzählens zu sagen. Da verkauft ein armer Bauer seine Sprache an einen dämonischen Meister, um im Gegenzug nicht mehr hungern zu müssen. Die Geschichte des geschwätzigen Friseurs erzählt von einem König, der den Lügner sucht, der ihn noch überraschen kann. Natürlich lässt sich der Friseur beim Erzählen nicht nehmen, dabei seinem stummen Freund die Haare zu schneiden. Der Häftling berichtet, wie er unschuldig im Gefängnis landete und dort unter einem sadistischen Wärter litt, aber auch, wie es an diesem Ort vor Geschichten nur so wimmelte.
So sind alle Erzähler von einem warmen, weisen und humorvollen arabischen Charme erfüllt, der seither meine Faszination für diese Welt befeuert. Im gesamten Buch schweifen die Männer immer wieder vom eigentlichen Strang ihrer Erzählung ab und geben kurze Anekdoten zum Besten, was zeigt, wie sehr das Leben durchdrungen ist von kleinen und großen, wahren und erdachten, traurigen und hoffnungsvollen Geschichten, die unser aller Leben ausmachen.
Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Geschichte des zurückgekehrten Migranten, der zehn Jahre als Araber in Amerika verbracht hat. Sie zeigt auf, wie unsere Vorstellungen uns darin beeinflussen, was wir glauben und was nicht.
Manchmal ziehen wir deshalb gar eine Lüge der Wahrheit vor. Der Emigrant, wie ihn seine Freunde nennen, berichtet, wie er sich den Amerikanern als Araber und Christ vorstellte. Ein muslimischer Amerikaner konnte dies nicht akzeptieren und erwiderte: „[A]lle Araber sind Mohammedaner. Sie haben doch den Islam erfunden!‘ Er war enttäuscht, als hätten die Araber ihn mit dem Islam im Stich gelassen.“ Die Freunde wundern sich über die Ignoranz der Amerikaner, doch tatsächlich sind sie selbst so sehr in ihren Vorstellungen gefangen, dass sie ihrem Freund die Wahrheit kaum glauben können. Als der Emigrant behauptet, dass die Amerikaner ihre Friedhöfe schmücken und für Spaziergänge nutzen, reicht es ihnen und sie rufen: „Nein, jetzt hörst du mit deiner Wahrheit auf und erzählst uns ein Märchen!“
Rafik Schami schafft es mit seiner zauberhaften Erzählkunst, seiner Leserschaft die lebensbejahende Kultur seiner Landsleute nahezubringen, die sich wie keine andere durch Geschichten definiert. Der christliche Emigrant versucht sein amerikanisches Gegenüber auch mit dieser Eigenschaft zu überzeugen: „Doch, doch, ich bin ein waschechter Araber. In meiner Familie gab es in jeder Generation einen Dichter.“ Ein wunderschöner Roman über den Zauber der Sprache, die Kunst des Geschichtenerzählens, die Angst vor dem Ende des Lebens, den Wert der Freundschaft und das diverse und farbenfrohe Syrien, wie es einst war.
Rafik Schami. Erzähler der Nacht. Gulliver von Beltz & Gelberg. 288 Seiten, 9,95 €.

Britta Füllgrab
(Bild - Pexels)
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