Buchvorstellung 4 - Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde

Ev.-luth. Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde
Hannover Badenstedt
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Buchvorstellung

James Runcie: Sidney Chambers ermittelt

Geistliche haben mit dem Tod zu tun. Diese Binsenweisheit verlockt immer wieder dazu, geistliche Detektive ins literarische Leben zu rufen. Der Klassiker ist natürlich „Father Brown“ (ins Deutsche etwas missverständlich als „Pater Brown“ übersetzt), ein unscheinbarer katholischer Geistlicher, der im richtigen Moment die richtigen Fragen stellt. Sein entfernter Nachfolger ist Sidney Chambers, der seit 2012 in insgesamt sechs Büchern (drei davon bis jetzt ins Deutsche übersetzt) Verbrechen auϐklärt. Amtssitz des ϐiktiven Geistlichen ist das real existierende Dorf Grantchester unweit der Universitätsstadt Cambridge. Es gilt als Ort mit der höchsten Nobelpreisträgerdichte weltweit. Und so entstehen viele Konϐlikte schon aus dem Zusammenleben von einfachen Dörϐlern und verschrobenen Universitätsgelehrten. Die Geschichten (jeder Band enthält mehrere davon) spielen zwischen 1953 und 1976. Sie sind gleichzeitig Kriminalerzählungen und präzise soziale Schilderungen des Neubeginns nach dem Krieg. Die anglikanische Kirche versucht einen Spagat wischen Tradition und Moderne und es ist keineswegs sicher, dass sie das schafft. Sidney Chambers liebt Jazz, würde aber nie Gemeindelieder auf der Gitarre begleiten. Offen und aufmerksam begegnet er seinen Mitmenschen, mit Humor und einem vorurteilsfreien Blick auf ihre Schwächen.  Der Pfarrberuf des Ermittlers ist nie nur exotische Staffage. Die Schilderung seines Arbeitsalltags kann ich jederzeit nachvollziehen, manches hat für Kollegen einen hohen Wiedererkennungswert. Oft werden ganze Predigtpassagen zitiert, die unglaublich authentisch wirken – womöglich hatte der Autor Zugriff auf die Predigtentwürfe seines Vaters? Der war seit 1979 als Erzbischof von Canterbury das Oberhaupt der anglikanischen Kirche und vorher lange Jahre Pfarrer in einer ganz ähnlichen Gemeinde. James Runcie weiß also, wovon er schreibt. Dazu erschafft er eine Vielzahl liebenswürdiger (und gelegentlich sehr beängstigender) Dorϐbewohner, die – ähnlich wie bei Inspektor Barnaby oder Miss Marple – sich unverhältnismäßig oft betrügen, bestehlen oder umbringen. Dazu gehört auch der bärbeißige Inspektor mit chaotischem Privatleben, vor dem er sich immer wieder in seinen Beruf oder ins Pub ϐlüchtet. Oder die herrische Haushälterin mit den etwas zweifelhaften Koch- und Backkünsten, deren Kuchen schon mal als Mordwaffe verdächtigt wird. Der bärtige Hilfsgeistliche mit seiner Vorliebe für Dostojewski, sein Nachfolger, der durch seine Leidenschaft für Kuchen bald in der Gemeinde beliebter ist als der Pfarrer selbst, der Musikprofessor, der einen Kollegen durch die Auswahl der Chorstücke bei einer Trauerfeier des Mordes anklagt  – und viele mehr. Anders als Father Brown ist Sidney Chambers nicht unscheinbar. Er ist ein groß gewachsener, sehr gutaussehender Mann, dessen beste Freundin, die reiche Adlige Amanda Kendall, ihn nur deshalb nicht heiraten will, weil sie sich nicht vorstellen kann, eine Pfarrfrau zu sein (was ihrer Freundschaft durch alle Bände hindurch keinen Abbruch tut).  Sidney Chambers ist ein eher unfreiwilliger Ermittler und dennoch kann er sich dem Reiz eines ungelösten Geheimnisses nur selten entziehen. Die Lösung von Kriminalfällen ist für ihn aber kein Spiel, sondern entspringt seinem Drang, Menschen zu helfen und zumindest eine Ahnung von Gerechtigkeit herzustellen. Allzu oft stellt erfest, dass auch nach der Auϐklärung des Falls Opfer wie Täter weiterhin im „Schatten des Todes“ leben müssen. Das nagt an ihm und verunsichert ihn existentiell. Immer wieder macht er seine Mitmenschen auf die Folgen ihres Handelns aufmerksam – und gelegentlich gelingt es ihm dadurch sogar, Verbrechen zu verhindern. Ich habe die Bücher mit Genuss gelesen, nicht nur wegen der skurrilen Kriminalfälle, sondern vor allem wegen der dadurch angestoßenen Betrachtungen Sidneys über Gott und die Menschen.
James Runcie: Der Schatten des Todes, Atlantik Verlag, 415 S., 12,00 €.

Manuel Kronast
(Bild Rural-Now)
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